Matthias Grünzig: Bezahlbares Wohnen oder Privatisierung und Luxus? Der Molkenmarkt am Scheideweg

Baustelle Molkenmarkt (c) Matthias Grünzig

Wohin steuert die Berliner Mitte? Ist sie auch zukünftig ein Ort, an dem bezahlbares Wohnen möglich ist? Oder entwickelt sie sich zu einem Wohnort, der nur für einkommensstarke Schichten bezahlbar ist? Zu einem Testfall für diese Frage entwickelt sich immer mehr das Quartier am Molkenmarkt, das ab 2027 bebaut werden soll. Denn hier tobt aktuell eine harte Auseinandersetzung zwischen zwei gegensätzlichen Ansätzen: Die aktuellen Pläne sehen ein vielfältiges Stadtquartier mit rund 400 bezahlbaren Wohnungen vor, die durch landeseigene Wohnungsbaugesellschaften errichtet werden sollen. Gegen diese Pläne machen einflussreiche Akteure mobil: Sie fordern die Privatisierung der landeseigenen Flächen und den Bau exklusiver Wohnungen.

Diese Konflikte begleiten schon die gesamte Planungsgeschichte des Molkenmarkt-Projektes. Den Ausgangspunkt der Konzepte bildete das im November 1996 vorgestellte „Planwerk Innenstadt“, das im Auftrag des damaligen Staatssekretärs Hans Stimmann entwickelt wurde. Für den Ostteil, zu dem auch der Molkenmarkt gehörte, waren der Stadttheoretiker Dieter Hoffmann-Axthelm und der Architekt Bernd Albers zuständig. Sie entwickelten ein Konzept, das eine radikale Umstrukturierung der alten Berliner Mitte zum Ziel hatte. Öffentliche Freiflächen sollten im großen Stil in Bauland verwandelt und privatisiert werden. Diese Grundstücksverkäufe sollten zusätzliches Geld in die Landeskasse spülen. Noch wichtiger war aber ein zweites Ziel: Denn den Protagonisten des Planwerkes ging es um nichts Geringeres als um eine „Kulturrevolution“, mit der die Bevölkerungsstruktur in der Innenstadt verändert werden sollte. Auf den neugeschaffenen Grundstücken sollten einkommensstarke „neue Stadtbürger“ ihre Häuser bauen. Ziel war die Etablierung eines neuen Bürgertums, das die Innenstadt besetzen und auf diese Weise ganz Berlin dominieren sollte. Diese Planungen wurden begleitet von Polemiken gegen Mieter, die angeblich keinen Beitrag zur Stadtkultur leisten würden, und Forderungen nach einem „Abschied von der Mieterstadt“.

Von diesem Geist waren auch die Planungen für den Molkenmarkt geprägt. Um die „neuen Stadtbürger“ in das Molkenmarkt-Quartier zu locken, sollten die neugeschaffenen Bauflächen nicht in großen Losen an Großinvestoren verkauft werden. Stattdessen wurden viele kleine Parzellen geplant, die mit kleinen Häusern bebaut werden sollten. Den Bezugspunkt bildete die Parzellenstruktur von 1910, die dem Vorhaben eine historische Legitimität verleihen sollte. Zudem sahen die Planer eine weitere Attraktion vor, die die „neuen Stadtbürger“ für den Molkenmarkt interessieren sollte. Denn an der Klosterstraße planten sie die Wiedererrichtung des „Gymnasiums zum Grauen Kloster“. Die bereits 1574 gegründete Schule zählte zu den renommiertesten Lehranstalten Preußens, sie galt als eine Eliteschule. Eine neue Eliteschule sollte ihren Beitrag zur Aufwertung des Quartiers leisten.

Diese Planungen wurden in den folgenden Jahren weiterentwickelt. Auf eine Bürgerbeteiligung wurde ganz bewusst verzichtet, schließlich hätten sich an diesen Veranstaltungen auch Gegner des Planwerks beteiligen können. Stattdessen richtete Hans Stimmann sogenannte „Planungswerkstätten“ ein, die aus handverlesenen Teilnehmern bestanden und die nichtöffentlich tagten. Dieser Mangel an Bürgerbeteiligung prägte den Planungsprozess der nächsten Jahre. Am 18. Mai 1999 wurde eine reduzierte Variante des „Planwerks Innenstadt“ vom damaligen CDU-SPD-Senat beschlossen. Im Mai 2003 folgte der Aufstellungsbeschluss für den Bebauungsplan 1-14, der das Gebiet um den Molkenmarkt umfasste. Dieser Bebauungsplan wurde schließlich am 19. April 2016 vom damaligen SPD-CDU-Senat beschlossen und am 12. Mai 2016 vom Abgeordnetenhaus bestätigt.

Neben der Parochialkirche wurden die Vorstellungen des „Planwerks Innenstadt“ tatsächlich Wirklichkeit. Hier errichtete die Bauwert AG zwischen 2014 und 2017 die Wohnanlage „Klostergärten.“ Das Büro Patzschke & Partner Architekten entwarf 57 exklusive Eigentumswohnungen für das „neue Berliner Bürgertum“, die zu Preisen von bis zu 10.000 Euro pro Quadratmeter verkauft wurden.

Wohnanlage Klostergärten (c) Matthias Grünzig

Mit dem Amtsantritt des neuen rot-rot-grünen Senats Ende 2016 begann eine radikale Kehrtwende in Sachen Molkenmarkt-Planung. Die bisher unterbliebene Bürgerbeteiligung wurde nun nachgeholt. In mehreren Pop-Up-Werkräumen, Foren und Sondierungsgesprächen konnten Bürgerinnen und Bürger ihre Vorstellung von der Zukunft dieses Quartiers einbringen. Bei diesen Veranstaltungen wurde deutlich, dass sich eine Mehrheit keineswegs ein elitäres Viertel für „neue Stadtbürger“ wünschte. Stattdessen standen Themen wie bezahlbares Wohnen und der Umgang mit dem Klimawandel im Mittelpunkt. Die Geschichte des Ortes sollte ebenfalls sichtbar gemacht werden, allerdings nicht als Nachbauten verschwundener Häuser, sondern durch authentische Geschichtszeugnisse in Form von archäologischen Fenstern. Eine wichtige Rolle wurde der Kultur zugedacht. Das neue Quartier sollte „kulturelle Freiräume“ bieten, eine „partizipative Baukultur“ sollte kulturelle Akteure in die Planungen einbeziehen. Diese Forderungen fanden Eingang in 8 Leitlinien für den Molkenmarkt, die nur noch wenig mit den Ideen des „Planwerks Innenstadt“ zu tun hatten.

Der Bürgerbeteiligungsprozess führte auch zu praktischen Konsequenzen. Eine entscheidende Weichenstellung war die Veränderung der Bauherren: Die landeseigenen Grundstücke sollten nun nicht mehr privatisiert, sondern durch die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften WBM und Degewo bebaut werden. Diese Entscheidung sollte den Charakter des Projektes komplett verändern, und das in doppelter Hinsicht: Erstens war der ursprünglich geplante Bau von teuren Luxuswohnungen für „neue Stadtbürger“ mit den neuen Bauherren nicht mehr möglich. Denn die WBM und die Degewo sind schon aufgrund der Kooperationsvereinbarung mit dem Berliner Senat verpflichtet, bezahlbare Wohnungen zu bauen. Mindestens 50 Prozent der Neubauwohnungen sollten zu Nettokaltmieten von 6,50 Euro vermietet werden, die restlichen Wohnungen sollten zu einer Durchschnittsmiete von maximal 11 Euro vergeben werden.

Zweitens eröffneten die neuen Bauherren ganz neue Möglichkeiten für eine vielfältige Kultur. Denn sowohl die WBM als auch die Degewo konnten Erfahrungen mit der Entwicklung kultureller Standorte vorweisen. Die WBM ist an der Entwicklung des „Hauses der Statistik“ beteiligt. Hier hat sie gemeinsam mit vielfältigen kulturellen Akteuren einen Entwicklungsprozess angestoßen, der auch bundesweit Anerkennung gefunden hat. Die Degewo konnte ähnliche Erfahrungen mit der Entwicklung der Wiesenburg in Wedding sammeln. Bei beiden Projekten ging es neben dem Wohnungsbau um die Schaffung von bezahlbaren und zugleich flexiblen Räumen für kulturelle und zivilgesellschaftliche Akteure. Die Einsetzung der WBM und der Degewo als Bauherren brachte also die Chance, ähnliche Entwicklungen am Molkenmarkt zu initiieren.

Die neuen Leitlinien führten auch zu Veränderungen der Planung. 2021 wurde ein städtebauliches und freiraumplanerisches Wettbewerbsverfahren gestartet. Das Ziel war die Einarbeitung der neuen sozialen und ökologischen Anforderungen in den Bebauungsplan. Die Ausschreibung forderte ausdrücklich „innovative, zukunftsweisende und durchaus auch experimentelle Ideen und Konzepte“ auf Basis der 8 Leitlinien.

Diese Entwicklungen stießen bei den Anhängern der Privatisierung auf geballten Widerstand. Hauptkritikpunkte waren der Verzicht auf eine Privatisierung und die Einsetzung der landeseigenen Wohnungsgesellschaften als Bauherren. Bereits im Februar 2019 veröffentlichten verschiedene Initiativen, darunter die Planungsgruppe Stadtkern im Bürgerforum Berlin und die Gesellschaft Historisches Berlin, eine Petition für „Bauherrenvielfalt und Rekonstruktion am neuen Molkenmarkt!“. Diese Petition forderte eine Rückkehr zu den ursprünglichen Zielen des „Planwerkes Innenstadt“. Die Grundstücke sollten nicht durch landeseigene Wohnungsgesellschaften bebaut, sondern kleinteilig parzelliert und privatisiert werden. Zudem wurde die Rekonstruktion einzelner Leitfassaden verlangt. Im September 2021 wurde eine vergleichbare „Petition für einen vielfältigen Molkenmarkt“ veröffentlicht.

Diese Forderungen bergen einen erheblichen Konfliktstoff in sich, weil sie den Neubau bezahlbarer Wohnungen fast unmöglich machen. Auf der einen Seite würden durch eine Privatisierung Bauherren zum Zuge kommen, die nicht der Kooperationsvereinbarung unterliegen und die nicht zu preiswerten Mieten verpflichtet werden können.

Auf der anderen Seite haben andere Städte, wie Frankfurt/Main, Lübeck, Potsdam und Dresden, mit ähnlichen Konzepten sehr negative Erfahrungen gemacht. In all diesen Städten hat sich gezeigt, dass eine kleinteilige Parzellierung und die Rekonstruktion von Leitfassaden eine enorme Verteuerung der Baukosten zur Folge haben. Im Dom-Römer-Quartier in Frankfurt/Main wurden 35 Gebäude mit 80 Wohnungen errichtet, die anschließend zu Preisen von bis zu 7250 Euro pro Quadratmeter verkauft wurden. Dennoch wurde das Vorhaben so teuer, dass die Stadt es mit fast 100 Millionen Euro subventionieren musste. Als besonders kostentreibend hat sich die Rekonstruktion von sogenannten „Leitfassaden“ kriegszerstörter Gebäude erwiesen. Im Dom-Römer-Quartier wurden 15 Gebäude mit solchen Leitfassaden errichtet. Laut Aussage des Geschäftsführers der Dom-Römer GmbH, Michael Guntersdorf, waren diese Gebäude doppelt so teuer wie die anderen Neubauten.  Folgerichtig ist das Wohnen im Dom-Römer-Quartier für Normal- und Geringverdiener unerschwinglich.

Eine kleinteilige Parzellierung und die Errichtung von Leitfassaden würden auch am Molkenmarkt zu einer drastischen Verteuerung der Baukosten führen. Erste Schätzungen des Bezirksamtes Mitte vom September 2021 gehen von Realisierungskosten von 6000 bis 9000 Euro pro Quadratmeter aus. Die Schaffung bezahlbarer Wohnungen und Kulturräume dürfte angesichts solcher Baukosten kaum durchsetzbar sein. Am Ende könnte eine Situation wie am Friedrichswerder drohen, wo es zwar viele kleine Parzellen aber keine Vielfalt gibt.

Zudem würde ein Nachbau von Parzellenstrukturen aus dem 19. Jahrhundert die Nutzungsvielfalt auch in anderer Hinsicht stark einschränken. Denn viele Parzellen waren sehr klein und verwinkelt, manche wiesen nur eine Breite von 4 Metern auf. Viele kulturelle Nutzer, wie Theater, Tanzgruppen, Galerien, benötigen aber größere Räume. Zudem sind kulturelle Akteure auf ein großes Maß an Flexibilität angewiesen. Eine kleinteilige Parzellierung würde diese Flexibilität massiv einschränken.

Folgerichtig führten die Forderungen dieser Vereine zu harten Konflikten. Vor allem die Bauherrenfrage sorgte für Streit. Während die restaurativen Vereine für eine Privatisierung trommelten, machte sich die Initiative Offene Mitte Berlin, zu der auch der Autor gehört, für die landeseigenen Wohnungsgesellschaften als Bauherren stark.

Der Konflikt ist noch nicht entschieden. Zwar sind im neuen Koalitionsvertrag vom November 2021 zahlreiche Forderungen enthalten, die auch in den 8 Leitlinien eine Rolle spielen. Neue Stadtquartiere sollen klimagerecht gestaltet werden, der Neubau von bezahlbaren Wohnungen spielt eine große Rolle. Das Molkenmarkt-Quartier soll in einem „Berliner Band der Kultur“ entwickelt werden. Vor allem aber soll auch weiterhin auf eine Privatisierung landeseigener Immobilien verzichtet werden. Doch gleichzeitig wurde mit Petra Kahlfeldt eine Persönlichkeit zur Senatsbaudirektorin ernannt, die in der Vergangenheit vor allem als Anhängerin des Planwerks Innenstadt aufgefallen war. Petra Kahlfeldt war zudem in der „Planungsgruppe Stadtkern“ aktiv, die sich immer wieder für eine Privatisierung der Grundstücke am Molkenmarkt eingesetzt hatte. Folgerichtig weckte ihre Ernennung die Befürchtung, dass nun wieder der Geist der Privatisierung am Molkenmarkt einziehen könnte.

Die ersten Signale von Petra Kahlfeldt sind durchaus widersprüchlich. Auf eine Anfrage der Abgeordneten Katalin Gennburg betonte sie, dass die Grundstücke weiterhin durch die WBM und die Degewo bebaut werden sollen. Doch in einer Anhörung im Stadtentwicklungsausschuss des Abgeordnetenhauses am 28. Februar 2022 erklärte sie, dass sie sich durchaus auch andere Bauherren vorstellen könnte.

Zudem ist auch das städtebauliche und freiraumplanerische Wettbewerbsverfahren noch nicht entschieden. Die Preisgerichtssitzung hat im November 2021 zwei Entwürfe zur Weiterbearbeitung empfohlen: den Entwurf von OS arkitekter mit cka czyborra klingbeil architekturwerkstatt und den Entwurf des Büros Bernd Albers mit Vogt Landschaftsarchitekten. Am 7. Juli 2022 soll ein endgültiger Sieger gekürt werden. Anschließend sind Realisierungswettbewerbe für den Hochbau geplant. Die Konflikte um den Molkenmarkt werden also auch in den nächsten Jahren weitergehen.

aus: Henselmann-Journal, Heft 7/2022

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