Alexander Stumm: Appell für ein klimagerechtes Berlin

Immer noch besser als auf dem Land: Fuchs auf dem Tempelhofer Feld (c) Alexander Stumm

Im Kampf gegen die Klimakrise spielt Stadtbaupolitik eine entscheidende Rolle. Sie muss heute klima- und umweltgerecht handeln, um die Ziele von morgen zu erreichen. Ein Appell an die Senatsbaudirektion, die junge Generation mit überzeugenden ökologischen Ideen zu überraschen.

Die politischen Vorgaben sind klar: Um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, müssen die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 45 Prozent gegenüber dem Stand von 2010 sinken. Bis 2045 will die Bundesrepublik klimaneutral sein. Der aktuelle Umweltbundesamt-Emissionsbericht sagt: Deutschland ist nicht auf Kurs, seine Klimaschutzziele zu erreichen. Die Wirtschaft hat sich 2021 erholt, die Kohlenstoßemissionen sind nach dem COVID 19-bedingten Einbruch wieder gestiegen. Der Gebäudesektor hat zum zweiten Mal in Folge sein Emissionsminderungsziel verfehlt. Die Bauwirtschaft insgesamt zeichnet für rund 40 Prozent des CO2-Ausstoßes verantwortlich. 2019 entstanden in Deutschland zudem etwa 230 Millionen Tonnen Bau- und Abbruchabfälle, was etwa 54 Prozent des gesamten deutschen Abfalls ausmacht.

Eine Bauwende ist also notwendig, um die selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Dafür bedarf es eines Umdenkens auf allen politischen Ebenen. Eine allgemeingültige Blaupause, die allein auf nationaler oder europäischer Ebene ausgearbeitet wird, scheint aber wenig zielführend. Denn für unterschiedliche Regionen sind unterschiedliche Faktoren prägend. Die Ebene der Stadtpolitik spielt deshalb eine entscheidende Rolle im Kampf gegen die Klimakrise.

Berlin ist die Stadt mit dem größten absoluten Bevölkerungswachstum in Deutschland. Die Senatsbaudirektion – also desjenigen Organs, das für die kommunalen Bauaufgaben und die übergeordnete Planung zuständig ist – hat heute die genuine Aufgabe, klimaneutrale Lösungen mitzuentwickeln, einen pluralen, niedrigschwelligen Diskurs anzuregen und die Umsetzung finanziell und strukturell zu unterstützen. Dafür braucht es Experimentierfreude, die Vernetzung mit bereits bestehenden Akteuren und den Mut, neue Ideen zu fördern und gegen Besitzstandswahrer und Lobbyinteressen durchzusetzen.

Jenseits aller Diskussionen um Form- und Stilfragen ist dies die dringendste Forderung einer jüngeren Generation von Architekturschaffenden. Diese politisch sensibilisierte Gruppe – die sich längst bei Architects for Future und vielen anderen Institutionen organisieren – will aktiv und pragmatisch mitgestalten. Sie nutzen die demokratischen Strukturen und formulieren konkrete Lösungsvorschläge. Nicht nur, aber gerade in Berlin passieren mit hohem zivilgesellschaftlichem Engagement vielversprechende Dinge. Frau Kahlfeldt, der Ball liegt in ihrem Feld!

Floating University von raumlabor berlin als ökologisches Experiment in der Stadt (c) Alexander Stumm

Wie könnte ein klimagerechtes Berlin aussehen?

Der von der Senatsbaudirektion vollzogene Rückgriff auf die (ehrlicherweise vor allem im deutschen Diskurs verankerte) „europäische Stadt“ als städtebauliches Leitbild reicht als Antwort einfach nicht mehr aus. Sie wirkt vor dem Hintergrund der Klimakrise seltsam aus der Zeit gefallen. Der Fokus auf die dicht bebaute und versiegelte Innenstadt verstellt die Sicht auf die größeren Problemlagen der Gegenwart. Einerseits lässt sie die vielfältigen inneren Peripheren mit den Wohngebieten außer Acht. Gerade auf der Mesoebene, also der mittleren Raumdimension, werden die ökologischen und sozioökonomischen Verflechtungen aber besonders deutlich. Andererseits wird der Übergang zum Umland ausgeblendet. Im Blick auf das gesamte urbane Gefüge werden die Wechselwirkungen mit dem Ökosystem – Atmosphäre, Hydrosphäre, Pedosphäre und Biosphäre – greifbar.

Die Landschaftsarchitektin und Professorin an der University of Waterloo Jane Hutton spricht in Reciprocal Landscapes. Stories in Material Movement die vielfältigen Abhängigkeiten zwischen gebauter Umwelt und umgebender Landschaft an.[1]  Architektur und Stadt sind Teil eines komplexen Gefüges aus Abbaugebieten, Rohstoffgewinnung, (fossiler) Energie, Transport, Lieferketten, Arbeitsbedingungen, Kohlenstoffkreisläufen, Ökosystemen und Biodiversität.

Philipp Misselwitz, Professor an der TU Berlin und Co-Geschäftsführer von Bauhaus Erde, spricht hier von „zirkulären Bioregionen“. Städte sollten nicht nur CO2-neutral, sondern mittels Holzarchitektur künstliche Kohlenstoffsenken werden. Berlin-Brandenburg mit seinen reichhaltigen regenerativen Ressourcen böte dafür günstige Voraussetzungen. „Der Waldumbau spielt eine entscheidende Rolle. Es geht nicht um klassische Kiefern und erst recht nicht um Altwälder, sondern darum, ganz offen in die Zukunft zu denken: zum Beispiel mit Pappeln, Robinien oder manchen Gräsern, die alle schnell wachsen“, so Misselwitz.[2]

Holz – sozusagen erstarrtes CO2 – ist bekanntlich das leistungsfähigste Verfahren für die Bindung und Speicherung des Treibhausgases überhaupt. Die mitunter beschworene hohe Biodiversität der Stadt im Vergleich zu ländlichen Räumen liegt aber in erster Linie an der weitgehenden Lebensfeindlichkeit von Land- und Forstwirtschaft. Eine wirklich nachhaltige Holzarchitektur muss das Wachstum und die sich gegenseitig verstärkenden Dynamiken einer artenreichen Waldbewirtschaftung miteinkalkulieren.

Im Koalitionsvertrag ist die Ausrichtung einer Bauausstellung vereinbart, die in die Zuständigkeit der Senatsbaudirektion fällt. Mit der Initiative IBA Berlin Brandenburg 2030 gibt es mit den Architektenkammern Berlin und Brandenburg bereits Akteure, die ein strukturelles Zusammenwachsen der Metropole in der Region vordenken. Auch die Senatsbaudirektion schreibt sich die Verschränkung von Stadt-Land auf die Fahnen. Frau Kahlfeldt, überraschen Sie uns mit wirklich umweltgerechten Ideen!

Das Spektrum ökologischer Architektur ist breitgefächert: Bauen mit Lehm, Holz, Stroh und anderen nachwachsenden Rohstoffen, der Nutzung lebender Pflanzen für die Dach- und Fassadenbegrünung, Low Tech- und Low Cost-Strategien, aktive und passive Nutzung von Solarenergie, energieeffiziente Gebäudehüllen, Weiterbauen im Bestand, Re-Use, planungskritische und partizipative Ansätze.

Das Oeuvre von Paul und Petra Kahlfeldt ist sicher kein Modell für ökologische Architektur, und wird wohl auch von den Architekt*innen selbst nicht so begriffen. Dennoch bietet es mit den gelungenen Sanierungsprojekten einen Ansatzpunkt, auf dem sich aufbauen ließe. Die Erhaltung dürfte jedoch nicht nur auf einen kleinen Teil von (Repräsentations-)Architektur beschränkt sein, sondern müsste den gesamten Baubestand umfassen. Abriss darf nicht die Regel, sondern muss die Ausnahme sein. Weitere Möglichkeit für die Schonung von Ressourcen ist die Konzeption und Umsetzung von Infrastrukturen für die Implementierung von Re-Use in der Architektur. Dafür bedarf es einem dezentralen Netz von Bauteillagern. Auch hier existieren längst Akteure, die es lohnen unterstützt zu werden.

Mit der Klimakrise steht die Architektur vor einem erweiterten Aufgabenbereich. Sie verlangt nach einem hohen Maß an Öko-Kompetenz. Es gilt klein- und großmaßstäblich zu denken und die erweiterte Expertise anderer Disziplinen miteinzubeziehen. Stadtentwicklung arbeitet mit langfristigen Zeiträumen. Sie muss heute klima- und umweltgerecht handeln, um die Ziele von morgen zu erreichen. Ein Blumenstrauß an Ansätzen, wie die Bauwende funktionieren kann, steht auf dem Tisch. Frau Kahlfeldt, zeigen Sie uns, dass Sie ihn in unser Berlin tragen können!

Alexander Stumm, Universität Kassel, FB06 Architektur Stadtplanung Landschaftsplanung


[1] Jane Hutton: Reciprocal landscapes. Stories in Material Movement, Abingdon-on-Thames 2020, S. 5.

[2] „Roadmap für das Bauhaus Erde“, Philipp Misselwitz im Gespräch mit Alexander Stumm, in: Stadtbauwelt 234 (Juni 2022), S. 64–67, hier S. 66.

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