c/o now: Im Fokus: Berlin. Aus der Geschichte Konsequenzen ziehen

Nachdem das sogenannte „Ibiza-Video“ an die Öffentlichkeit gelangt, fordern Demonstrant*innen auf dem Wiener Ballhausplatz den Rücktritt von Vize-Kanzler Heinz-Christian Strache. Original-Bild: Christian Michelides, via Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0.

Dieser Text wurde auf den berühmten „letzten Drücker“ im Zug zwischen Prag und Linz geschrieben. Weder wurde er zu kurzfristig angefragt, noch haben wir uns wochenlang der Prokrastination hingegeben. Wir hatten schlichtweg alle Hände voll zu tun. Denn als „junge Architekt*innen“ – ein Adjektiv, das man offenbar bis ins späte Midlife-Crisis-Alter bemühen darf –, mit der Mission in einer Stadt wie Berlin auf die Beine zu kommen und dort auch zu bleiben, kommt man nur selten zur Ruhe. Ganz im Gegenteil. Während Materialpreise, Lohnkosten und Zinsvorgaben von globalen Krisen befeuert täglich neue Produktionsbedingungen herstellen, laufen im Schatten dieser Ereignisse dennoch Planungen und Baustellen fort; wir dürfen uns an der Ausbildung kommender Architekt*innen [?] beteiligen; und nicht zuletzt jetzt, wo wir alle zumindest das Gefühl haben uns wieder halbwegs sicher treffen zu können, häufen sich Veranstaltungstermine, die zu diesem Zeitpunkt des Jahres vor der Pandemie längst in der Sommerpause gewesen wären.

Am Vorabend der Zugfahrt beispielsweise waren wir eingeladen, um in der Prager Architekturgalerie „VI PER“ in der Reihe „In Focus: Berlin“ zu sprechen. Der Titel unseres Vortrags: „Qu’ils mangent de la brioche! Provocative Reports from the Capital of Neo-Feudalism.“ P-R-O-V-O-C-A-T-I-V-E, aber eben doch Reports: Wir berichteten vom Wiedergänger Stadtschloss – den an diesem Abend anwesenden Prager*innen en detail unbekannt, aber dennoch sofort als Teil in ganz Europa an Architekturen und Räumen beobachtbarer, bedenkenswerter Phänomene identifiziert –; wir erzählten von den Hameau des Reines im bis in die Uckermark erweiterten Berliner Umland – wo wohl zwar nicht wie von Marie Antoinette oder dem Alten Fritz auf den Wiesen sitzend Voltaire gelesen wird, aber dennoch manch Weltbild ins Wanken gerät –; und last but not least, bekamen die Besucher*innen unseres Vortrages Bilder aus einem heimlich auf der Partyinsel Ibiza aufgenommenen Videos zu sehen. Darin ist der Vize-Kanzler einer zur Europäischen Union gehörenden Demokratie unter anderem dabei zu sehen und hören, wie er versucht, eine der größten Tageszeitungen seines Landes an die vermeintliche Nichte eines Oligarchen zu verscherbeln.

Plakat für den Vortrag „Qu’ils mangent de la brioche! Provocative Reports from the Capital of Neo-
Feudalism“ von c/o now in der VI PER Gallery in Prag. Ankündigungstext: “The resurrection of the
Berlin Imperial Palace literally puts the crown on the developments of three decades. But there
are numerous other pulp stories to be told from Germany’s capital – or rather from its environs,
from the Hameau de la Reine’s of the lesser nobility. c/o now venture a handful of provocative
reports about it from the point of view of a small, modest architectural practice on the edge of the
world’s history.”
Poster: © Vi PER Gallery. Artwork by Jiri Mocek (Permanent Office).



Der Vize-Kanzler aus dem südlichen Nachbarland Tschechiens und das Video sind den Prager*innen wohlbekannt. Den ebenfalls von dort kommenden Großinvestor, von dem der Vize-Kanzler im Video behauptet, er finanziere seine rechtspopulistische Partei, kennt niemand an diesem Abend. Kein Problem. Bei „In Focus: Berlin“ geht es ja schließlich um Stadtentwicklung und Architektur der Bundeshauptstadt. Und drei der Projekte des erwähnten Großinvestors in Berlin stehen nicht nur ob ihrer enorm prominenten Lage am Ku’damm, Hermann- oder Alexanderplatz oder ihrer Prominenten Architekt*innen (HHF, David Chipperfield, Jan Kleihues) im Fokus. Bei allen drei geht es um Grundstücke eines aus der Fusion zweier der Größten deutschen Warenhausketten entstandenen Warenhauskonzerns. Der Großinvestor war eigentlich dazu angetreten diesen Konzern zu retten. Kürzlich aber konnte die Insolvenz gerade noch so last Minute abgewendet werden und obendrauf musste daraufhin der Wirtschaftsstabilisierungsfonds des Bundes mit 700 Millionen € aushelfen.

Spätestens jetzt hatten die zum Vortrag erschienenen Prager*innen viele Fragen: „Deutschland und Österreich – dort wird doch dieselbe Sprache gesprochen. Wie kann das denn sein, dass die Berliner Politiker*innen und Verwaltungen niemals von diesem Großinvestor gehört haben? Liest man denn keine österreichische Presse in Deutschland? Macht man solchen Unternehmen alle Türen und Tore auf?“ Antwort: „Wieso denn nicht? Schließlich hat der Großinvestor im noch laufenden Untersuchungsausschuss des österreichischen Parlaments zum Ibiza-Video zu Protokoll gegeben, dass ihm die Aussagen des Vize-Kanzlers unerklärlich seien.“ Gegenfrage: „Ja aber, wenn ein Großinvestor antritt, um einen Warenhauskonzern zu retten, auf der einen Seite also Arbeitsplätze in Gefahr sind und Millionen Steuergelder als Stütze fließen, und auf der anderen Seite spektakuläre Immobilienprojekte geplant werden, wird man da nicht stutzig?“ Antwort: „Was haben denn bitte das Retail-Unternehmen und das Real-Estate-Unternehmen der Unternehmensgruppe miteinander zu tun?“

Sarkasmus beiseite: Natürlich haben wir an diesem Abend auch davon erzählt, dass eine auf Architektur spezialisierte Kommunikationsagentur uns im Auftrag eines der Unternehmen des Großinvestors dazu eingeladen hat, in einem Pop-Up-Event-Space auf der künftigen Baustelle am Ku’damm an einer Gesprächsrunde über die Zukunft der Stadtentwicklung in Berlin teilzunehmen. Hochrangigste Gäst*in neben einem Top-Manager des Großinvestors: Die neue Berliner Senatsbaudirektorin. Und das war uns dann doch etwas zu viel. Darum haben wir uns damals hingesetzt und einen offenen Brief geschrieben und in Umlauf gebracht:

[…]

An wen es betrifft:

Vergangenen Freitag (22.04.22) hat uns die Einladung zu einem „Round Table“ erreicht. Eingeladen: „Junge Architekten“ [sic], Journalist*innen bekannter und etablierter deutschsprachiger Architekturmedien (Online wie Print) und die neue Berliner Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt. Die Einladung ruft einige durchaus besprechungswürdige Themen auf, die in einem „offenen, direkten, unvoreingenommenen Austausch“ diskutiert werden sollen. Gastgeberin ist die Kuratorin des Programms zu Architektur und Stadtentwicklung einer von der SIGNA Real Estate betriebenen – uns bisher unbekannten – „temporäre[n] Kunsthalle“ am Kurfürstendamm.

Als Architekt*innen beteiligen wir uns immer wieder kritisch am Stadtentwicklungs-diskurs Berlin und Brandenburgs. Diesen kritischen Blick versuchen wir auch in unserer Lehre, wie derzeit im Rahmen der von uns als c/o now kollektiv eingenommen Gastprofessur an der Kunstuniversität Linz, an künftige Kolleg*innen weiterzugeben.

Als Planende und Bauende in der Rechtsform einer GmbH sind wir ein privatwirtschaftliches Unternehmen. Hier arbeiten wir mit öffentlichen, aber überwiegend mit privaten Auftraggeber*innen zusammen. Diese Arbeit basiert immer auf gegenseitigem Vertrauen. So wie wir als Architekt*innen über das reine Angebot unser Dienstleistungen hinaus die Verpflichtung verspüren, das ‚Wohl der Allgemeinheit‘ als Planungs- und Handlungsparameter zu verstehen, haben wir dabei bisher auch ausnahmslos mit Auftraggeber*innen kollaboriert, die sich dieser im Artikel 14 Absatz 2 des Grundgesetztes der Bundesrepublik festgeschriebenen Prämisse ebenso fest verpflichtet fühlen und auch entsprechend agieren.

Die Einladung an uns stellt vollkommen richtig fest, dass ‚die Ernennung von Petra Kahlfeldt als Berliner Senatsbaudirektorin nicht ohne Widerspruch geblieben ist‘. Auch wir haben dieser Berufung öffentlich widersprochen, sehen aber vor allem die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) und den Senator für Stadtentwicklung und Umwelt Andreas Geisel (ebenfalls SPD) in der Verantwortung. Wir halten es für einen unglücklichen Umstand, dass die Senatsbaudirektorin einem Treffen mit ‚Junge[n] Architekten‘ dieser Stadt, die ‚gezielt ein[ge]laden‘ werden, ausgerechnet in einer ‚temporäre[n] Kunsthalle‘ zugestimmt hat, die von einem Immobilienunternehmen betrieben wird, von dem die Einladung selbst sagt: ‚Auch SIGNA ist viel in der Presse‘.

Wir sind grundsätzlich mit wenigen Ausnahmen dazu bereit mit anderen Positionen in Dialog zu treten, dazu gehören auch Immobilienunternehmen, ob sie nun in der Presse sind oder nicht. Wir erwarten aber gerade von der Senatsbaudirektorin, dass ein solches Gesprächsangebot auf Augenhöhe stattfindet. Dazu gehört unserer Meinung nach auch ein öffentlicher, niedrigschwellig zugänglicher und mit Blick auf die ‚temporäre Kunsthalle‘ letztlich neutraler Ort, an dem sich möglichst viele, verschiedene Akteur*innen, die an der Gestaltung dieser Stadt beteiligt sind oder beteiligt sein sollten, versammeln können. Die Zukunft der Stadt sollte an Orten diskutiert werden, die dem öffentlichen Interesse dienen und nicht privatwirtschaftlichen Interessen. Andernfalls laufen wir Gefahr, dass spezifische Kritik in eine Allgemeingültigkeit verkehrt, oder sogar von den Veranstalter*innen instrumentalisiert wird. Enthalten wir uns jeglicher Kritik, legitimieren wir gegebenenfalls kritikwürdige Positionen allein durch unsere Anwesenheit.

Wir bedanken uns daher höflich bei der Kuratorin des Programms zu Architektur und Stadtentwicklung der neuen ‚temporäre[n] Kunsthalle‘ am Kurfürstendamm für die Einladung, die wir allerdings entschieden ausschlagen müssen.

Die Senatsbaudirektorin rufen wir dazu auf mit Nachdruck den Kontakt zu ‚Junge[n] Architekten‘ zu suchen; Teil einer engagierten, öffentlichen und nicht nur für Expert*innen zugänglichen und sich fortschreibenden Gesprächskultur zu werden; und solche wichtigen, öffentlichen Termine selbst zu initiieren, statt solche Formate Dritten zu überlassen!

Unsere Kolleg*innen, ob jung, alt oder noch studierend, bitten wir ebenso wie unsere Auftraggeber*innen darum, aus Solidarität mit unser aller Arbeits- und Lebensbedingungen, aber vor allem der offenen und transparenten Diskussionsmöglichkeit der Zukunft dieser Stadt willen, der Einladung zu solchen Formaten wie nun diesem ‚Round Table‘ – ob nun als Beitragende oder Zuhörende – ebenfalls nicht nachzukommen!

c/o now, Berlin, 25.04.22

Der Offene Brief von c/o now, 25.04.2022.
Bild: c/o now.

[…]

Die Besucher*innen des Vortrags in Prag wollen jetzt wissen, ob der Termin mit der Senatsbaudirektorin denn dann stattgefunden habe? Wir berichten, dass die Senatorin, den Termin krankheitsbeding abgesagt habe und wir nach der emotionalen Achterbahn eventuell Kolleg*innen und Auftraggeber*innen verstört zu haben, einen Moment der Genugtuung empfunden hätten. Wir müssen aber auch erzählen, dass die Senatsbaudirektorin offenbar wirklich und schwerer erkrankt ist und es deshalb nichts mehr gibt, worüber man sich da freuen könne. Ob wir denn über eine Gegeneinladung nachgedacht hätten? Ja, antworten wir, und dass es durchaus auch viele gab, die uns aktiv dazu ermuntert haben. Wir müssen aber auch erzählen, dass wir wie viele der angesprochenen, „jungen“ Büros, kaum in der Lage sind, derart Engagement und Agencies in unserem Tagesablauf unterzubringen. Und, dass es Teil des Dilemmas ist, dass die Stimmen in Berlin und anderswo in Deutschland mehren, die sich ein Vehikel wünschen, welches in der Lage dazu ist speziell für eine „jüngere Generation“ von Architekt*innen und Planer*innen zu sprechen und auch zu agieren, dass aber auch jeder Versuch bisher daran gescheitert ist, dass eben Alle, alle Hände voll zu tun haben. Abgesehen davon, denken wir, dass es primär die Aufgabe gewählter Volksvertreter*innen und der Organisationen des Kommunen ist, solche Dialoge zu ermöglichen. Wir konnten weiter davon berichten, dass die Solidarität unter den Kolleg*innen aus „jungen“ Büros wenig überraschen, aber dennoch groß war und wir zahlreiche Nachrichten erhielten oder gezielt angesprochen wurden. Auch viele bereits etablierte Kolleg*innen, von denen wir es teilweise nicht vermutet hätten, haben sich bei uns gemeldet. Direkt oder öffentlich hat uns niemand widersprochen. Zumindest nicht, bis Ralf Schönball vom Tagesspiegel von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung erfahren wollte, was diese den von der Sache halte. Einer deren Sprecher lies den Journalisten nämlich wissen, dass die ganze Aufregung „konstruiert“ sei. Nach der Logik der Kritisierenden „dürfe kein politisch Verantwortlicher mehr an einem privat organisierten Immobilienkongress teilnehmen” und wer solche Forderungen aufstelle, mache sich dialogunfähig. Einige Tage später wollte das Baunetz von der Senatsbaudirektorin direkt wissen, ob sie unseren Aufruf verstehen könne. Teil ihrer Antwort: „Wir fragen ja gar nicht mehr nach den Möglichkeiten, die diese Veranstaltungen bieten, sondern nur noch danach, wer dieser Bauherr ist.“

Nach der Veranstaltung in Prag sitzen wir mit unseren Gastgeber*innen in einem Biergarten und werden ausgiebig mit Getränken verpflegt. Jemand am Tisch wirf die Frage auf, wie schwer es in Deutschland eigentlich sei, aus der Geschichte Konsequenzen zu ziehen? Und das auch noch, wo diese doch gerade vor unseren Augen verhandelt werde? Gerade habe man doch Gerhard Schröder seine Altkanzler-Privilegien genommen, weil er nach Möglichkeiten und nicht nach den Auftraggebern gefragt habe? Wir wechseln irgendwann und gerne das Thema und reden über etwas Schönes. Am nächsten Tag sitzen wir verkatert im Zug und beginnen diesen Text zu schreiben. [c/o now]

c/o now ist ein Architekt*innenkollektiv

https://www.co-now.eu/

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