Bürgerbeteiligungsverfahren gehören heute zum Standard bei Stadtentwicklungsprojekten. Ein völlig ergebnisoffenes Verfahren ist allerdings die absolute Ausnahme. Doch genau solch ein Experiment wurde 2015 im Gebiet um den Berliner Fernsehturm gestartet. Dieser Ort war seitdem Schauplatz eines Partizipationsverfahrens, das Maßstäbe in Sachen Bürgerbeteiligung gesetzt hat.
Die Geschichte dieses Experiments begann im Herbst 2013. Damals war die Zukunft des Freiraums am Fernsehturm völlig unklar. Auf der einen Seite wurden 1999 und 2009 Beschlüsse des Senats und des Abgeordnetenhauses gefasst, die eine Weiterentwicklung des Gebietes als öffentlicher, grüngeprägter Freiraum vorsahen. Auf der anderen Seite aber meldeten sich gut organisierte Interessengruppen zu Wort, die eine Privatisierung und Bebauung des Freiraums propagierten. Zerrieben zwischen den Zuständigkeiten von Bezirk und Senat, verwahrloste der Ort zusehends. Als Reaktion auf diesen Konflikt beschloss das Abgeordnetenhaus im Herbst 2013 ein ergebnisoffenes Bürgerbeteiligungsverfahren, in dem über die Zukunft dieses Gebietes entschieden werden sollte. Auf der Auftaktveranstaltung am 18. April 2015 unterschrieben die baupolitischen Sprecher aller Fraktionen des Abgeordnetenhauses ein „Dialogversprechen“. Sie versprachen einmütig, dass sie die Ergebnisse des Partizipationsverfahrens akzeptieren würden.
Was dann begann, war ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Unter dem Motto „Alte Mitte – neue Liebe“ folgte eine Vielzahl an Fachkolloquien, Bürgerwerkstätten, Foren, Online-Dialoge, „Partizipatives Theater“, eine Jugendbeteiligung und eine Fahrrad-Rikscha, bei denen sich die Bürger einbringen konnten. Die Besonderheit des Verfahrens bestand darin, dass keinerlei Vorgaben gemacht wurden. Die Bürger konnten völlig frei ihre Vorstellungen formulieren. Diese Vorgehensweise zahlte sich aus: Rund 100.000 Bürger beteiligten sich an den Veranstaltungen.
Eine wichtige Zwischenetappe bildete das Halbzeitforum am 5. September 2015, auf dem die Bürger per TED-Abstimmung über verschiedene Thesen zur Zukunft des Gebietes befinden konnten. Zur Auswahl standen sowohl die Erhaltung des Gebietes als öffentlicher Grünraum als auch die Privatisierung und die Bebauung des Gebietes. Umso überraschender waren die Ergebnisse der TED-Abstimmungen: Eine klare Mehrheit votierte für die Erhaltung des Gebietes als öffentlicher, nicht kommerzieller Freiraum und eine grüne Oase. Gleichzeitig machten die Bürger auch deutlich, dass sie eine Weiterentwicklung des Freiraums wünschten. Vor allem wurden eine Verkehrsberuhigung des Gebietes und eine bessere Gestaltung der Uferzone an der Spree gefordert. Am Ende des Verfahrens konnte sich eine Mehrheit der Beteiligten auf zehn sogenannte „Bürgerleitlinien“ einigen. In diesen wurden wichtige Punkte, wie die Erhaltung des Freiraumes als öffentlicher, nicht kommerzieller Raum, die Entwicklung des Raumes zu einer grünen Oase und die Reduzierung des Autoverkehrs festgeschrieben. Die Bürgerleitlinien wurden am 9. Juni 2016 mit den Stimmen aller Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses beschlossen.
Nach diesem Beschluss wurden Fachgutachten erarbeitet, die Grundlagen für die weitere Entwicklung des Freiraumes lieferten. Das Gutachten „Typisierung des öffentlichen Raumes in der Berliner Mitte“ der Büros gruppe F und yellow z beschäftigten sich mit den Funktionen des Freiraums im Verhältnis zu den anderen Stadträumen in der Berliner Mitte. Die „Ökologische und stadtklimatische Untersuchung der Berliner Mitte“ der Büros gruppe F und GEO-NET untersuchte die ökologischen Qualitäten, aber auch die Defizite des Freiraums. Eine Studie zur „Regenwasserbewirtschaftung“ der gruppe F untersuchte die Möglichkeiten eines klimaverträglicheren Umganges mit dem Regenwasser im Freiraum.
Auf Basis dieser Gutachten begann im Herbst 2018 die Vorbereitung des freiraumplanerischen Wettbewerbs zum Rathausforum / Marx-Engels-Forum. Auch dieser Prozess war mit einem vielfältigen Bürgerbeteiligungsverfahren verbunden. Zwischen Herbst 2018 und Frühjahr 2020 fanden zahlreiche Projektwerkräume, Fachlabore, Stadtlabore, Foren und Online-Beteiligungen statt, bei denen die Bürger ihre Vorstellungen einbringen konnten. Diese Veranstaltungen bedeuteten zugleich eine neue Qualität der Bürgerbeteiligung: Im Unterschied zu den Stadtforen der neunziger Jahre, in denen die Experten auf dem Podium diskutierten und die Bürger auf die Zuschauerplätze verbannt wurden, fand hier ein Dialog auf Augenhöhe statt. An Tischen und Tafeln diskutierten Mitarbeiter der Verwaltung, Vertreter von Interessengruppen, Fachleute und Bürger über die Zukunft des Freiraumes. Jeder konnte seine Ideen einbringen, jede Meinung fand Gehör. Bei Bedarf wurden die Debatten durch Input-Vorträge von Experten vertieft. Beispielsweise referierten der Verkehrsexperte Weert Canzler vom Wissenschaftszentrum Berlin über die Mobilität der Zukunft, der Landschaftsarchitekt Stephan Strauss zum Denkmalschutz des Freiraumes unter dem Fernsehturm und des Marx-Engels-Denkmals. Zudem fand das Partizipationsverfahren an einem sehr attraktiven Ort statt. Denn im Sommer 2018 wurde in der Karl-Liebknecht-Straße die Stadtwerkstatt eröffnet, die dank ihrer zentralen Lage am S-Bahnhof Alexanderplatz von allen Teilen der Stadt aus gut erreichbar ist.
Tatsächlich entwickelte sich das Partizipationsverfahren zu einem großen Erfolg. Die schwellenlose Gestaltung des Verfahrens lockte erstaunlich viele Bürgerinnen und Bürger in die Stadtwerkstatt. Gemeinsam wurde beraten, wie der Freiraum zukunftsfähig gemacht werden kann. Die Diskussionen offenbarten, dass die von den Medien gern hochgespielten Konflikte zwischen Freiraumbefürwortern und Bebauungsbefürwortern kaum noch eine Rolle spielten. Viel wichtiger waren Fragen der Ökologie und der Aufenthaltsqualität. Ein zentrales Thema war die Anpassung des Freiraums an den Klimawandel. Das Jahr 2019 stand im Zeichen der Klimaproteste von „Fridays for Future“, diese Themen strahlten auch auf die Stadtwerkstatt aus. Diskutiert wurde, wo zusätzliche Bäume gepflanzt werden können. Naturschützer wiesen auf die vielfältige Tierwelt auf dem Freiraum hin und forderten Maßnahmen zu ihrem Schutz. Intensiv wurde beraten, wo zusätzliche Flächen entsiegelt werden könnten, damit das Regenwasser im Sinne der „Schwammstadt“ im Boden versickern kann. Einen großen Raum nahm das Thema Verkehr ein. Fast alle Beteiligten waren sich einig, dass der PKW-Verkehr stark reduziert werden sollte. Und schließlich wurde auch über die Nutzung der angrenzenden Gebäude debattiert. Vor allem Künstler äußerten den Wunsch, die Gewerbegeschosse an der Rathaus- und Karl-Liebknecht-Straße für kulturelle Nutzungen zu öffnen.
Auch wurde der Bereich um den Fernsehturm nicht isoliert betrachtet, sondern es ging immer auch um die Zukunft der Stadt insgesamt. Wie muss sich die Stadt verändern, damit sie den Herausforderungen der Klimakrise gerecht wird? Viele dieser Debatten kosteten viel Zeit und Kraft, und oft prallten Positionen unvereinbar aufeinander. Beispielsweise wünschten sich viele Bürger ein gut beleuchtetes Marx-Engels-Forum. Naturschützer dagegen lehnten helles Licht mit Rücksicht auf die Tierwelt ab. Doch am Ende wurden zu fast allen Fragen einvernehmliche Positionen gefunden, die Eingang in die Wettbewerbsauslobung fanden. Allein diese Debatte hatte einen Wert an sich: Selten wurde über die Zukunft der Stadt so kompetent und engagiert diskutiert wie hier.
Gleichzeitig hatte die Wettbewerbsvorbereitung auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Denn die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz lieferte kein Konzept für eine Verkehrsberuhigung in der Berliner Mitte, das in dem Beschluss des Abgeordnetenhauses eigentlich gefordert wurde. Zudem brachten die Bürger viele Vorschläge ein, die nur langfristig umsetzbar waren. Auf diese Probleme reagierte die Wettbewerbsauslobung mit einer Zweiteilung des Wettbewerbs: In der ersten Phase können die Teilnehmer radikale Visionen für die Zeit um 2040 entwerfen. In einer zweiten Phase werden dann realisierungsfähige Konzepte gefordert, die ab 2024 umgesetzt werden sollen.
Und dann stand der Wettbewerb auch noch zeitweilig auf der Kippe. Denn im März 2020 brach auch über den Wettbewerb die Corona-Krise herein. Der ursprünglich für April 2020 geplante Wettbewerbsstart wurde auf Oktober 2020 und dann auf unbestimmte Zeit verschoben. Schließlich hat auch der Druck der beteiligten Bürgerschaft dafür gesorgt, dass der Wettbewerb am 14. Januar 2021 doch noch starten konnte. Nach den jetzigen Planungen soll er im August 2021 abgeschlossen werden.
Natürlich ist das umfangreiche Partizipationsverfahren kein Garant dafür, dass der Wettbewerb am Ende wirklich ein Erfolg wird. Doch eines hat das Verfahren schon jetzt geleistet: Der Freiraum zwischen Fernsehturm und Spree ist bei allem Geschichtsbewusstsein einer zusammengewachsenen Großstadt, ein Ort der gemeinsamen Zukunft geworden.
aus: Henselmann-Journal, Heft 5/2021